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Die Kraft der Farben
von Daniel Delhaes
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Das Siemens Kulturprogramm zählt zu den
fortschrittlichsten in Deutschland.
Ein gelernter Musiker hält mit seinem Team einen
Weltkonzern in Atem. Das Ziel: Neues Denken auslösen und Strukturen
aufbrechen.
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Rupprecht Geiger: Ohne Titel, Jahr unbekannt |
Lange Zeit brütete der Philosoph und
Soziologe Auguste Comte vor sich hin, bis er im Jahr 1830 seine Neuheit
präsentieren konnte. Sein Anliegen war eine dem Egoismus entgegengesetzte
ethische Grundhaltung. Freilich gab es für das, was er sich da ausgedacht
hatte, keinen Namen; doch bürgerte es sich fortan ein, alle, die seine
Denkrichtung mit Leben füllten, "Altruisten" zu nennen.
Nur 17 Jahre später entstand ein Unternehmen, das sich ebenso die Suche
nach dem Neuen auf die Fahne geschrieben hatte. Werner von Siemens
präsentierte der Welt den Zeigertelegraphen und erhoffte sich von seiner
Entdeckung, daß die "Telegraphen-Bauanstalt Siemens&Halske"
ihm und seinen Nachkommen "Macht und Ansehen in der Welt gebe"
und sie "in höhere Lebensregionen" führe.
Mit der philosophischen Denkrichtung Comtes hatte der findige Avantgardist
bei seinem folgenden Aufstieg freilich wenig im Sinn. Auch heute stehen in
der Welt der Aktienkurse, Gewinne und Fusionen kühle Köpfe und
Nutzenmaximierer in den ersten Reihen, lenken promovierte Lean-Manager und
Outsourcer die Geschicke der Unternehmen. Ihr Ziel ist simpel und doch
schwierig umzusetzen: Sie wollen die Nummer eins am Markt sein.
Die Nummer eins möchten auch Konzerne wie
Siemens sein, die als Global Player im harten Wettbewerb jeden
erdenklichen Kostenvorteil nutzen müssen. Kostenvorteile hin oder her:
1987, exakt 140 Jahre nach der Gründung der Telegraphen-Bauanstalt, hat
Siemens das Thema Kultur institutionalisiert und investiert seither Jahr
für Jahr Millionenbeträge, um zeitgenössische Künstler und deren
Arbeiten zu finanzieren. Nach dem Tode Ernst von Siemens', der einen
Musikpreis und eine Stiftung zur Förderung der bildenden Künste
eingerichtet hatte, sollte die Verbindung zur Kultur bestehen bleiben -
auch wenn das Unternehmen damit den Umsatz nicht unmittelbar steigern
kann. Was aber nutzt es, sich Altruist zu nennen, wenn es doch darum geht,
den Umsatz konsequent zu steigern?
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Josef Albers: Hommage to the square 1967 |
"Wir betreiben Zukunftssicherung, so wie der Bauer seinen Acker
bestellt. Das Unternehmen muß langfristig gestalten und darf sich nicht
nur auf seine Umwelt oder gar den Staat verlassen", sagt Michael
Roßnagl. Er ist die kulturelle Seele von Siemens. Er ist es, der einen
Etat verwaltet, dessen Umfang bewußt nie genannt wird. Weil es ihm und
dem Unternehmen um die Zukunftssicherung geht, arbeiten Roßnagl und sein
13köpfiges Team direkt im Hauptquartier der Siemens AG, wenige Räume
entfernt von Vorstandschef Heinrich von Pierer. |
Am wenigsten strebt das Kulturprogramm an, dem Vorstandschef zu gefallen.
"Unsere Aufgabe ist es, Verkrustungen aufzubrechen und die Menschen
mit neuen Impulsen zu konfrontieren", sagt Roßnagl. Womit könne er
das besser als mit Kunst? "Künstler denken viel radikaler, haben die
Nase im Wind und verfolgen konsequent den Lifestyle." Wer innovativ
arbeiten wolle, der müsse am Puls der Zeit sein, und am besten noch einen
Schritt voraus.
Für den Begriff "Kultur" mögen
Dutzende von Definitionen existieren, aber vermutlich am besten umschreibt
"Kultur" den geistigen, sozialen Entwicklungsstand einer
Gesellschaft. Siemens begreift sich als Teil der Gesellschaft; Siemens
entwickelt Neues, hat sogar den Anspruch, Leben zu gestalten und zu
verändern, wie einst der Zeigertelegraph die Kommunikation weltweit
revolutionierte. Das alles erfordert anderes Denken, gegen den Strich zu
bürsten. Die Politik weiß keine rechten Antworten auf die
Herausforderungen, sprachliche Neuschöpfungen wie "Reformstau"
reduzieren die geistige Lähmung auf ihr Wesensmerkmal.
Querdenker und risikofreudige Eliten sind in einer Zeit der
gesellschaftlichen Umbrüche gefragt. Die Forderung "Denken Sie das
Unmögliche", wie sie der Porsche-Vorstandschef Wendelin Wiedeking an
die Politik stellt, kommt da nicht von ungefähr. "Die Menschen
wollen immer, daß es ihnen besser geht, nur ändern darf sich
nichts", bringt Roßnagl den Stillstand auf den Punkt.
Die Scheu vor dem Neuen wollen Roßnagl und seine Mitdenker aus der Kunst-
und Kulturgeschichte, der Musikwissenschaft, der Germanistik und
Politikwissenschaft den 380000 Beschäftigten im Konzern nehmen. Dafür
initiieren und unterstützen sie Jahr für Jahr etliche Projekte. Das Team
vergibt Kompositionsaufträge, ermöglicht Ausstellungen und
Theateraufführungen, Konzerte, Tanz und Videoinstallationen.
Zeitgenössisch müssen die Projekte schon sein, ansonsten gibt es aber
keine Grenzen. Siemens ist überzeugt davon, daß nur im Dialog mit den
Künstlern etwas entstehen kann, das auch das Unternehmen voranbringt.
Innovationen sollen in den Köpfen ausgelöst werden.
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Kultur arbeitet zusammen mit der
Wirtschaft: "Die freie Gestaltung durch den Künstler ist dabei
oberstes Gebot", erklärt Roßnagl. Das Ergebnis präsentiert das
Kulturprogramm zuerst den Mitarbeitern und deren Angehörigen, danach darf
die Öffentlichkeit teilhaben - ohne daß ihnen ein Siemens-Logo
ins Auge springt. Darauf legt das Kulturprogramm wert. Monat für Monat
stehen mehrere Veranstaltungen zur Auswahl. "Natürlich sind nicht
immer alle von den Projekten begeistert", gesteht Roßnagl. Doch auch
das Unangenehme löse schließlich kreative Prozesse aus. |
Lothar Quinte: Ohne Titel, 1967
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Die Mitarbeiter des Kulturprogramms sind ständig unterwegs, besuchen
Künstler und reden mit Museumsdirektoren. Die Gespräche wecken Gedanken
für neue Projekte - oder eine Idee entwickelt sich im
Headquarter-Brainpool am Wittelsbacher Platz. So kam etwa im Büro der
Einfall zustande, historische Jahrmarktorgeln mit zeitgenössischer Musik
zu bespielen. Siemens beauftragte fünf Komponisten, die bei ihrer Arbeit
merkten, daß eine Orgel ihre eigenen Gesetze hat. Am Ende ertönte eine
Musik, die nur auf einer Orgel klingen kann. Künstler, Organisten und
Zuhörer überschritten bei der Uraufführung in Magdeburg so eigene
Erfahrungshorizonte.
Andere Projekte entstehen auf Anregung von
Kulturschaffenden. Auf diese Weise kam die Ausstellung "Deep Storage"
zustande, die zeigt, wie in den unterschiedlichen Wissenschaftszweigen in
den vergangenen dreißig Jahren Informationen gespeichert und archiviert
wurden. Das Siemens Kulturprogramm hat das Konzept gemeinsam mit dem
Münchener Haus der Kunst entwickelt, zwölf Neuproduktionen in Auftrag
gegeben und den Katalog gestaltet. "Unser Katalog zur Deep-Storage-
Ausstellung ist mittlerweile das Handbuch zum Thema Speichern
geworden", kann Roßnagl heute sagen.
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Günter Fruhtrunk: Ohne Titel, etwa 1965 |
Einmal im Jahr prüft die Vorstandsetage das Kulturprogramm auf Herz und
Nieren. Dann muß Leiter Roßnagl zeigen, ob seine Kreativen auch
betriebswirtschaftlich gedacht haben. Konzernchef Heinrich von Pierer
fordert eine glasklare Kosten-Nutzen-Rechnung und eine Planung für das
nächste Geschäftsjahr. Dafür nimmt er sich eine ganze Stunde Zeit.
"Wie war die Resonanz im vergangenen Jahr, was lief besonders gut,
wie viel haben wir ausgegeben, welche Projekte stehen in diesem Jahr an,
was wird uns das bringen?" Ach ja, und : "Was wird es
kosten?" |
In dem zirka 80 Seiten starken
Jahresbericht rechtfertigt sich Roßnagl dann, erklärt, weshalb
Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky gemeinsam mit dem Choreographen Alan
Schacher und dem Soundartisten Rik Rue den Mitarbeitern durch
Tanz-Rhythmus-Kompositionen in alten Industriehallen neue Horizonte für
den Werkalltag öffnen kann, weshalb eine Video-Oper über das Wetter
inspiriert und zu neuem Denken anregt. Wenn von Pierer, der sich
leidenschaftlich für die bildenden Künste interessiert, auch bei manchen
Projekten skeptisch nachfragt, abgelehnt hat er noch keines.
Für Roßnagl sind solche Kontroversen immer wieder ein Kompliment.
"Um als Unternehmer von der Kultur zu profitieren, muß man bereit
sein, die Förderung einem kulturdenkenden Menschen zu übertragen. Kultur
denkt anders als Ökonomie." Das zu erkennen sei oft der schwierigste
Schritt für Firmenchefs.
Das Kulturprogramm des Technologiekonzerns Siemens macht möglich, was
andere für abwegig und unverständlich halten. Dahinter steckt immer der
Wille, innovativ und kreativ zu sein, einen Ideenpool zu befördern, der
nicht nur die kulturelle Szenerie um einige Projekte bereichert, sondern
auch die kulturelle Haltung im Unternehmen prägt.
Die Belegschaft bekommt diese Haltung zu spüren, und gelegentlich
protestiert sie auch - zumindest am Anfang. "Vor fünf Jahren
war das Geschrei groß, als wir anfingen, Bilder in den Fluren
aufzuhängen. Heute fragen mich die Mitarbeiter: Wann macht ihr wieder
etwas Neues?" Für Roßnagl steht fest, daß die Menschen bereit
sind, sich an- und aufregen zu lassen.
Und die Leute regen sich auf. Etwa dann,
wenn der Maler Rupprecht Geiger eingeladen wird, ein Bild für die Kantine
im Siemens-Headquarter am Wittelsbacher Platz zu schaffen. Seitdem dort
das "Farbfeld 845/91" hängt - mit eineinhalb mal
siebeneinhalb Metern "residiert" es eher -, fällt es
einigen Mitarbeitern schwer, weiterhin dort ihre Mittagspause zu
verbringen. Nicht, daß ein wunderschönes Landschaftsbild zum Träumen
einlädt oder den beruflichen Alltag erleichtert - das Bild ist
einfach magentafarben: bestechend schlicht.
Farbe wird zur Aktion. "Ein Mitarbeiter hat mir geschrieben, er
könne beim besten Willen nicht mehr in der Kantine essen. Er habe sich
sogar mit dem Rükken zu dem Bild gesetzt, aber es habe ihn einfach
gestört." Roßnagl schickte dem Kollegen kurzerhand einen
kunsthistorischen Aufsatz, der genau dieses Geiger-Phänomen beschreibt,
das der Mitarbeiter an Haut und Haaren spüren mußte: Die Farben
durchdringen ihn regelrecht.
Mittlerweile ißt der Mitarbeiter wieder in der Kantine, doch leicht
stellt sich die Frage nach dem Nutzen für Siemens. "Die kulturelle
Haltung, die Identität ist nicht in Geld meßbar. Sie ist vielmehr
spürbar und hat eine Aura", erklärt Roßnagl. Für das
Kulturprogramm-Team und letztlich auch für den Vorstand sind es die
"weichen" Faktoren, die den Erfolg garantieren: Wie groß ist
das Interesse im Haus, wieviel spricht man über das Kulturprogramm, ist
es "in"?
"Vielleicht ist es auch unserem Kulturprogramm zu verdanken, daß
sich das Unternehmen umstrukturiert, es moderner wird und auch mehr
Patente anmeldet als noch vor einigen Jahren." Und auch die Kultur
hat endgültig Einzug in jedes einzelne Büro gehalten. Mitarbeiter holen
sich für ihre Büros beim Kulturprogramm Plakate ab, der Arbeitsplatz
entwickelt sich zum persönlichen Lebensraum.
Vielleicht hat auch das Kantinenbild zum Wandel beigetragen. Rupprecht
Geiger weiß auf jeden Fall, warum es dieses durchdringende Magenta in der
Kantine sein mußte: "Rot ist Leben, Energie, Macht, Liebe, Wärme,
Kraft. Rot macht high." |