Nicht
immer nur vor einem reparierten Pissoirbecken
(Duchamp-Remake), anhand einer Suppendose (Warhol), einer 20.000
Mark teuren Büchse mit Exkrementen (Manzoni) oder
vis-à-vis einer bekleckerten Badewanne (Beuys) ist es heute
keine Schande, nicht zu wissen, was Kunst ist. Aber: Wer
auch immer behauptet, er habe irgendetwas Derartiges
geschaffen, gefunden oder bloß gedacht, genießt erst
einmal die Freiheitsgarantie des Grundgesetzes.
Daß
hier die Justitia eine kitzlige Achillesferse hat,
bestätigt neuerdings der Karlsruher Rechtsanwalt Daniel
Beisel in einer spannenden Dissertation (R. v. Decker‘s
Verlag, Heidelberg) über die strafrechtlichen Grenzen der
Kunst. Denn in den klarsten Urteilen dieser Materialsammlung
bleibt ungeknackt der kuriose Kern des Nichtwissens: die
Frage, was Kunst ist, "kann nach wie vor von niemandem
beantwortet werden".
Das
klingt nun gar nicht mehr nach der dandyhaften Arroganz, mit
der einst der prozeßfreudige Maler James A. M. Whistler
sich außerstande sah, den Geschworenen Kunst zu erklären.
Und erreicht die Wanderanekdote vom überforderten
Kritikerpapst nicht den Gipfel aktueller Seriosität: nach
längerem Wiegen des Kopfes entringt sich ihm das finale
Urteil: "Ja. Es hat was." Wehe natürlich, es will
heute einer ernsthaft wissen, was - es stürzt eine
Bibliothek von hochinteressant verknorpelten Auskünften
über ihm zusammen. Schon Hegels Studenten redeten ja von
der "partiellen Negation des An- und Umseins der
passiven Kausalität des Unendlichen" und meinten bloß
ein Loch im Hemd der Jungfrau Maria.
Als
mißverstandener Befreiungsschlag gegen alle
Denkvorschriften auch vor moderner Kunst hat sich
mittlerweile das "anything goes" des Wiener
Philosophen P. K. Feyerabend eingebürgert - sehr geeignet,
ein tolles Aha-Erlebnis aus irgendeinem Naja-Ergebnis
herauszuanalysieren. Und umgekehrt.
Noch
cooler: die Frage nach dem "Was" sei schon falsch,
hatte der vor kurzem gestorbene amerikanische Philosoph
Nelson Goodman erkannt und als entscheidende Verbesserung
hinterlassen: "Wann ist Kunst?" In einem Nachruf
erwähnte dann der Münchner Publizist Willy Hochkeppel, er
habe dem Philosophen einmal als logische Fortsetzung
vorgeschlagen: "Wann ist was Kunst?" - doch es
blieb wohl bei einer anhaltenden Gesprächsbereitschaft.
Aber
natürlich trotzdem: welch ein intellektueller Reiz,
sinnliches Abenteuer, ja fit-for-future-Gefühl: fördernd
und fundierend teilzuhaben am èlan vital dieses
undefinierbaren Kunstbegriffs.
Das
Team des Siemens Kulturprogramms arbeitet seit 1987 im Sinn
des Hauses und entsprechend seiner Dominanz in Technik und
Forschung als eine Art "Dritter Sektor". Wo wir in
den einzelnen Kultursparten den konkreten Vorschein einer
emanzipatorischen Phantasie entdecken, helfen wir ihr nach
vorne - man könnte sagen, in friedlicher Umkehr der
französischen Studentenparole von 1968 "La Fantaisie
au Pouvoir", zu der allerdings plakativ eine
revolutionäre Faust aus dem Fabrikschlot drohte.
Nach
dem Prinzip "Moderne Kunst an die Arbeitsplätze"
sind Siemens-Räume gleichsam aufgeladen mit kulturellen
Trends. Der vernetzte Mensch wird so in ein Gespräch
gezogen, als sei er da schon ein bißchen der Zeitgenosse
von morgen. Auch kommen die Mitarbeiter zu den Tatorten der
geförderten Innovationen in Bildender Kunst, Musik, Tanz,
Theater, multimedialen Events. So daß sich das
konzerneigene Nummer-eins-Bewußtsein der Technologie wie
von selbst verbindet mit der Aura von künstlerischer
Avantgarde.
Und
da zischt es gewaltig. Hier Ökonomie, hier Kunst - beide
Denkweisen geraten samt ihrem unterschiedlichen Wortschatz
hart aneinander. Vor allem, wo es um den gemeinsamen Einsatz
geht, kommt sowas wie Freude auf am Formulieren einer
"technisch-ästhetischen Ökonomie". Schon wird
untersucht, welcher Seite die "spekulativische
Idee" zuzuschreiben ist. Vielleicht zeigt ja der
Künstler dem Unternehmer, wo’s langgeht? Ist nicht
erwiesen, daß die berühmte
Rot-Wand
des Malers Rupprecht Geiger in der Siemens-Kantine ein
elementarer Muntermacher ist, der sich auch auf die Arbeit
auswirkt?
Die
Spanne zwischen Idee und Erfahrung ist im Siemens
Kulturprogramm denkbar gering. Denn hier erarbeitet ein
hauseigenes Team von Fachleuten die Projekt-Themen, die dann
mit Künstlern und Kultureinrichtungen konzipiert und
realisiert werden. Jede Veranstaltung ist ein Experiment,
und jeder Versuch einer Positionsbestimmung ist ein
Abenteuer mit offenem Ausgang.
Zum
Beispiel unterstützten wir mit dem Konzert "The Yellow
Shark" von Frank Zappa und dem Frankfurter Ensemble
Modern ein außergewöhnliches Ereignis und die
Experimentierfreudigkeit eines beispielhaften
E-Musik-Ensembles, das mit diesem Projekt Möglichkeiten des
Aufbrechens und Überwindens traditioneller
Musizierhaltungen zeigte. - In der Ausstellung
"Fotografie nach der Fotografie" präsentierten 30
Foto- und Medienkünstler die digitalen
Manipulationsmöglichkeiten der Fotografie und die neuen
Wege einer künstlerischen Bilderfindung. - Das
städteübergreifende Projekt "tanzraum 98"
stellte wegweisende Produktionen nationaler und
internationaler Tanzcompagnien vor.
Das
ist denn doch etwas anderes, als mancher in die Kultur
verschlagene Betriebsprüfer mit Unternehmenskultur meint.
Sie sei, so heißt es, "ein Geschäft, das auf der
Gegenseitigkeit von Leistung (Sponsor) und Gegenleistung
(Öffentlichkeitsarbeit durch den Gesponserten)
beruht". Abgesehen davon, daß derjenige sich schwer
verrechnet, der die Öffentlichkeitsarbeit als sichere
Größe behandelt: sie liegt nämlich ganz im Ermessen der
Medien.
Die
Ware Kunst als wahre Kunst? Warum den Künstler, der ja zum
Staunen der Wirtschaft seinen Kunden die offenbar
unmöglichsten Sachen andrehen kann - warum den nicht gleich
zum Sonderbeauftragten der modernen Ökonomie ernennen,
damit er neue Konsumwünsche erfindet?
Also
kurz und kühn: Kunst als Avantgarde der Ökonomie...?
Eine
derart rigorose Pathosformel, gewonnen aus der neu gesehenen
Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Kultur, signalisiert
nun aber doch einen überraschenden Ausbruch aus dem Versuch
eines gemeinsamen Denkhaushalts. Fast könnte sie aus dem
Schwabinger Cafè Größenwahn der Zwanziger Jahre stammen;
oder aus einer Chefetage, die sich total der Kunstmagie
ergeben hat. Jedenfalls reizt sie zu dem feuilletonistischen
Fallrückzieher: Kühe geben zur "Kleinen
Nachtmusik" mehr Milch? Dann ist Mozart ein
Avantgardist der Milchwirtschaft!
Auch
nach meiner Erfahrung ist der zu jeglicher Groß- und
Schandtat erweiterte Begriff von Kunst eine Ursache für das
ebenso erweiterte Herumphilosophieren. Oft nur ein heiteres
Bedeutungsraten.
Selbst
Jean Baudrillard, der Medientheoretiker mit dem
Siemens-Preis, macht es sich manchmal auf komplizierte Art
leicht: "Wenn ich nicht von Kunst spreche, dann einfach
deswegen, weil sie mir nicht spezifisch zu existieren
scheint".
Der
Göttinger Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin hat als
Münchner Kulturreferent genug von der alltäglichen
Auflösung der Kunst in Philosophie à la "documenta
X". Er erinnert an das "Handfeste", sozusagen
an das urban Brauchbare in der Kunst, womit er freilich
einer wachsenden Sehnsucht der ganzen Sparte entgegenkommt:
irgendwie will sie auch "richtig gebraucht"
werden.
Aber
dieser Titel "Avantgarde", wohl erworben im
Erfinden von Gegenwelten, von ästhetischen Sensationen,
Hochstimmungsfeldern - er sitzt mit all seinen Risiken
einfach nicht korrekt an der Tête eines Weltkonzerns. Man
stelle sich vor: Andy Warhol vor Heinrich von Pierer!
Für
eine moderne, aber halt in der Praxis eher neoromantische
und sehr dem Zufall ausgelieferte Betriebsidee soll hier das
Genialische des Künstlers, sein Sinn fürs Unerhörte,
seine ganze irrationale Potenz nicht bloß als geistige
Klimaanlage, nein, gleich als die leitende Größe in den
ökonomischen Prozeß eingebaut werden...? Von einer
Chefetage aus ernsthaft gesehen, klingt das mehr nach ultima
ratio als nach Avantgarde.
Mit
der Gründung eines Aktionskomitees der Künstler zwecks
Anerkennung als verantwortliche Betriebsavantgardisten ist
auch kaum zu rechnen. Denn nach der verführerischen
Analogie, die wahre Führungskraft gleiche eben doch dem
Künstler, wurde schon manche fixe Idee an die Wand
gefahren. Wenn man immer hört, mit welchem Schwung sich ein
ingeniöser Regel-Bruch gegen die Marktlage durchgesetzt
hat, dann ist doch dahinter auch einer zu vermuten, der in
der Kunst des Managements ganz vorne ist und seinerseits das
Gefühl entwickelt, hierin Avantgardist zu sein.
Auf
Schritt und Tritt diese populär verschlissenen Wörter! Zum
Beispiel "Innovation", worunter bei der
Siemens-Kulturförderung jeder versteht, was gemeint ist,
vom neuen Ansatz innerhalb einer Sparte bis zur
grundsätzlichen, etwa multimedialen Neuerung. In einem
Gespräch mit Jeanne Rubner hat jüngst der frühere
Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft Prof.
Wolfgang Frühwald vorgeschlagen, das Modewort zehn Jahre
lang nicht mehr zu benutzen, denn es unterscheide, was die
Produktion betrifft, nicht zwischen Verbesserung und
Revolutionierung.
Bedenklicher
wird es aber doch bei dem Modewort "Avantgarde",
wenn bei der Begriffsübernahme aus der Kunst in die
Ökonomie jeder Inhalt herausfällt und nur noch die Masche
gilt, wie es zum Erfolg kam, egal was. Dann zu sagen: Kunst
als Avantgarde der Ökonomie, das geht nur über eine Art
wirtschaftliche Umwegrentabilitäts-Lyrik.
Aber
kein Avantgarde-Streit! Alle Beteiligten stehen ja auf
demselben weiten Feld. Von einer Einmischung noch anderer
Fakultäten rate ich ab. Wenn erst die Militärhistoriker
sich der Avantgarde annehmen und aktuelle Kulturwerte in dem
Satz entdecken "Die Garde stirbt und ergibt sich
nicht" - dann stürzt das ganze künstlerische
Analogie-System ab. Denn in der längst aufgeklärten
Wirklichkeit von Waterloo 1815 sagte der General Cambronne
nur ein einziges, hier völlig unbrauchbares Wort:
"Merde!"